Benno Wagner

 

Kafka in Frankenstein.

Mitteleuropäische Nervenpolitik 1880 – 1938

(Exposé für einen Aufsatz- und Dokumentenband)
Böhlau Verlag Wien

Der geplante Band nimmt die Geschichte der deutschen Volksnervenheilanstalt im nordböhmischen Frankenstein (heute Podhají/Rumburk) zum Ausgangspunkt für eine Reihe von Erkundungen zum Diskurs über die Nerven im Zeitalter einer konfliktgeladenen Nationalisierung der Kultur und des Wissens. Er verbindet auf diese Weise ein Kapitel anschaulicher und reich dokumentierter Regionalgeschichte mit der Analyse einer diskursgeschichtlichen Konstellation von mitteleuropäischer, ja sogar globaler Tragweite.

Geschichte des Sanatoriums

Bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich die Heilanstalt des Großindustriellen Carl Dittrich aus dem benachbarten Schönlinde (Krásná Lípa) einen internationalen Ruf als physikalisch-diätetische Heilanstalt erworben. Das Spektrum der ‚Heilbehelfe’ erstreckte sich von traditionellen Anwendungen bis hin zu damals neuen und verheißungsvollen Verfahren wie der Elektrotherapie. Letzteres mag, neben dem finanziellen Engagements Dittrichs, der Grund dafür gewesen sein, dass im Verlaufe des Weltkriegs aus dem privaten Kurbetrieb eine staatliche Anstalt mit ‚nationalem Auftrag’ werden konnte. Als die 1915 in Prag eingerichtete Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger eine geeignete Einrichtung für die Behandlung der seit Kriegsbeginn zahlreich von der Front heimkehrenden ‚Kriegsneurotiker’ suchte, fiel die Wahl nach einer sorgfältigen Suche schließlich auf das Sanatorium in Frankenstein. Zum Zeitpunkt der Umwandlung des Sanatoriums in eine Volksnervenheilanstalt, im Frühjahr 1917, war eine solche Einrichtung freilich nicht mehr eigentlich als staatliche, sondern nur noch als nationale, als „Deutsche Volksnervenheilanhalt für das Königreich Böhmen“, realisierbar.

Eine wichtige Rolle bei der Einrichtung der Anstalt und ihres Trägervereins spielte der Prager Schriftsteller und Versicherungsjurist Franz Kafka. Sein Arbeitgeber, die Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (AUVA) für das Königreich Böhmen, war Trägerin der Staatlichen Landeszentrale und hatte dort zusammen mit seinem Chef Eugen Pfohl die Verantwortung für das Projekt ‚Volksnervenheilanstalt’ übernommen. Kafka, der bereits im Sommer 1915 als Patient (und möglicherweise sogar schon als Inspektor incognito) einen Aufenthalt in Frankenstein verbracht hatte, war nicht nur nachweislich an den Sitzungen des Komitees zur Auswahl einer geeigneten Einrichtung beteiligt; er schrieb auch neben dem Gründungsaufruf für den Trägerverein eine Reihe von Zeitungsartikeln und -aufrufen, in denen er um politische und finanzielle Unterstützung für das Projekt warb.

Nach dem Zerfall des Habsburgerreiches und der tschechischen Staatsgründung durchlief das Sanatorium eine wechselvolle Geschichte. In den 20er Jahren bestand es als Deutsche Volksnervenheilanstalt fort; während des Zweiten Weltkrieges diente es den deutschen Besatzern als Feldlazarett; in der ČSSR wurde es bis Anfang der 60er als Nervensanatorium weitergeführt. Seither werden die Gebäude in Frankenstein von der Städtischen Klinik Rumburk genutzt und beherbergen u.a. die Rehabilitationsabteilung.

Struktur des geplanten Bandes

Auf der Basis langjähriger Archivrecherchen von Jan Nĕmec (Direktor des Bezirksarchivs Děčín) und Benno Wagner (Mitherausgeber der Amtlichen Schriften Franz Kafkas) wird der Band die wechselhafte Geschichte des Sanatoriums rekonstruieren, dokumentieren und kommentieren. Zudem eröffnen eine Reihe namhafter AutorInnen Perspektiven auf die weiteren Felder der Medizin, der politischen Geschichte und der Literatur, die in der Geschichte des Sanatoriums miteinander in Berührung kommen. Dazu gehört die Rolle des Nerven-Diskurses im Rahmen der Moderne ebenso wie seine rhetorische Aneignung durch nationale Propaganda in der besonderen, multiethnischen Situation Böhmens mit seiner Grenzlage zu Deutschland, sowie nicht zuletzt die Brechungen, die diese komplexe kulturelle Besetzung einer zunächst einmal biologischen Kategorie in verschiedenen literarischen Kontexten, und insbesondere im Werk von Franz Kafka, erfahren hat.

Beiträge

  1. Nerven und Moderne

    Dietrich von Engelhardt (Lübeck):
    Das Sanatorium als Institution

    Marie-Luise Wünsche (Koblenz):
    Groddeck – Kafka. Schreibweisen im Sanatorium

  2. Nerven und Nation

    Steffen Höhne (Weimar):
    Neo-bohemistische Tradition und nationale Desintegration

    Eva Edelmann (Zürich):
    Nerven-Diskurs und Zionismus

    Miriam Triendl-Zadoff (München):
    Jüdisches Leben in böhmischen Kuranstalten

  3. Nerven und Biopolitik

    Marina Lienert (Med. Akademie Dresden):
    Psychotherapie in der Naturheilkunde von den Anfängen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Neuen Deutschen Heilkunde im Dritten Reich

    Julia Köhne (Wien):
    Elektroschocktherapie für Kriegsgeschädigte

    Natalie Stegmann (Tübingen):
    Staatliche Sozialpolitik und Kriegsgeschädigtendiskurs in den ersten Jahren der CSR

    Hana Masová (Med. Fakultät Prag):
    Heilanstalten für Geisteskranke in der Tschechoslowakei zwischen den Weltkriegen

  4. Kafka in Frankenstein

    Ekkehard Haring (Wien):
    Von der Naturheilanstalt zum Lungensanatorium. Die Akte K. – Streiflichter einer Nervösen-Karriere

    Robert Jütte (Stuttgart):
    Kafka als Medizinkritiker und Naturheilkundiger

    Jan Nĕmec (Dĕčin):
    Zur Geschichte des Sanatoriums in Frankenstein bei Rumburk

    Benno Wagner (Taipei):
    Kafka in Frankenstein. Volkskraft, Wehrmacht und der Kampf um das nackte Leben

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